NORSA

NRW - Nordrhein-Westfalen

Merkel kann Rüttgers-Erfolg nicht einfach kopieren
Spitzenkandidaten wissen um die Bedeutung Nordrhein-Westfalens und haben ihre Wahlkampfverlängerung gerade dorthin verlegt
Von Markus Dufner
Köln (15.09.05) - Am Tag vor der Bundestagswahl steigen Schröder und Merkel in Nordrhein-Westfalen in den Ring. Der Kanzler will in Recklinghausen noch einmal die wacklige SPD-Klientel im Ruhrgebiet mobilisieren, seine Herausforderin möchte von der ehemaligen Hauptstadt Bonn aus das Wahlvolk für sich einnehmen. Dass beide Spitzenpolitiker nach dem klassischen Wahlkampfabschluss am Freitag im Rheinland und in Westfalen Sonderschichten einlegen und noch einmal auf die Marktplätze gehen, ist dem möglicherweise knappen Ausgang der Entscheidung am Sonntag geschuldet.
In beiden Lagern herrscht Nervosität. SPD und CDU wissen zudem, dass die Bundestagswahl nicht zuletzt in NRW entschieden wird, wo mit 13,3 Millionen oder 22 Prozent aller Wahlberechtigten mehr Stimmen abgegeben werden können als in allen neuen Bundesländern zusammen. Trotz der Bierzeltsprüche von Edmund Stoiber (CSU) verlor der ehemalige Kanzlerkandidat nämlich vor drei Jahren vor allem an Rhein und Ruhr. Die Union brachte damals nur 35 Prozent auf die Waage, während die SPD 43 Prozent der Stimmen für Schröder mobilisieren konnte. 
Foto: Wahlkämpfer Jörg Detjen von der Linkspartei (NORSA)

Rüttgers: “Wahlkampf bis zum Schluss führen”
NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers, der die CDU bei der Landtagswahl im Mai zu einem unerwartet klaren Sieg führte, will den vor kurzem noch so sicher geglaubten Sieg bei der Bundestagswahl nicht auf den letzten Metern vor dem Ziel verschenken. »Wir haben in Nordrhein-Westfalen gute Erfahrungen damit gemacht, den Wahlkampf bis zum Schluss zu führen und erst danach über Posten zu reden.« Damals sei dieselbe Debatte gelaufen wie jetzt. »Noch am Wahltag hieß es, es gebe neue Geheimumfragen zu Gunsten von Rot-Grün«, so Rüttgers. »Tatsächlich aber hat die CDU den größten Wahlsieg seit 30 Jahren errungen.« Das Versprechen, Kosten gerade auch beim Personal zu sparen, hat Rüttgers schon gebrochen. Auf Grund großzügiger Neueinstellungen werden am Ende des Jahres 2,5 Prozent mehr Personal in allen Ministerien an Bord sein.
Helmut Stahl war einer der Macher des CDU-Siegs in NRW. Der Rüttgers-Vertraute, der jetzt die CDU-Fraktion in Düsseldorf anführt, will alles, nur nicht eines: eine große Koalition im Bund. Die sei nachteilig für Deutschland, stärke die politischen Ränder und verwische die Alternativen. Der 57-jährigen Bonner, der unter Helmut Kohl Staatssekretär war, ist optimistisch, dass es für Schwarz-Gelb reicht. Er baue vor allem auf bisher unentschlossene Wähler, da die Mehrheit dieser Gruppe eine Veränderung in Deutschland wolle. »Arbeitsmarkt, Renten- und Pflegeversicherung, Kinderarmut – alles ist unter Rot-Grün schlechter geworden, weil die Wirtschaft nicht in Gang gebracht wurde«, so die rot-grüne Bilanz in Stahls Augen. »Die öffentlichen Haushalte sind platt. Jetzt müssen wir die Menschen auf einen Weg der Veränderung mitnehmen.«
Doch die Union kann den Erfolg bei der Landtagswahl an Rhein und Ruhr bei der Bundestagswahl nicht einfach kopieren. »In Nordrhein-Westfalen kam viel zusammen«, erinnert sich die Kölner SPD-Ratsfrau Karin Wiesemann. »Da sagte der Wähler: 39 Jahre SPD sind genug. Wir wollen es mal mit Rüttgers versuchen.« Für die Wahl am Sonntag ist die Kommunalpolitikerin allerdings guten Mutes. Die Bedingungen auf Bundesebene seien nicht mit denen in NRW vergleichbar. »In Deutschland sind wir noch nicht für eine Kanzlerin bereit.«

SPD und Linkspartei in Köln haben keine Berührungsängste
Jörg Detjen, der zur PDS-Gruppe im Kölner Rat gehört, hat seinen Wahlkampfstand neben dem Markt im Kölner Stadtteil Nippes aufgeschlagen. Freundlich begrüßt er seine Ratskollegin Wiesemann, als diese am Stand stehen bleibt. Berührungsängste gibt es – anders als auf Bundesebene – nicht, die SPD-Frau und der Mann von der Linkspartei tauschen Neuigkeiten aus. »Die Stimmung bei uns ist gut«, sagt Detjen, der zum ersten Mal für den Bundestag kandidiert. In den Arbeitervierteln habe seine Partei in den letzten Jahren deutlich zugelegt. Insgesamt sei die Akzeptanz für die Linkspartei viel größer als für die PDS. »Vielleicht können wir vor der FDP die viertstärkste Kraft in Köln werden.« Zum Abschied wünscht Karin Wiesemann ihrem Ratskollegen viel Erfolg.

NORSA berichtet über die Landtagswahl:

- Rüttgers fehlen zwei Stimmen aus schwarz-gelbem Lager
- Regisseur contra Philosoph. Steinbrück und Rüttgers: Beobachtungen im NRW-Wahlkampf
-
Wahlkampfauftakt: Kunststücke am Reck

SPD
- Klarer Kurs oder Strategiewechsel?
-
Steinbrück mahnt die Leistungselite

CDU
-
“Die CDU ist gut drauf”. Hohe Zustimmung für einstigen Wackelkandidaten Jürgen Rüttgers

Bündnis 90/Die Grünen
- Die Mutter Courage von Düsseldorf. Grüne NRW-Umweltministerin Bärbel Höhn scheut keinen Kampf

PDS
- Interview mit NRW-Landessprecher Paul Schäfer
 

Zwischen Multikulti und Moschee
Deutsche Türken sind ein Faktor bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen
Von Markus Dufner
Sie arbeiten bei Ford und Opel, haben Döner-Buden aufgemacht oder betreiben Reisebüros. Die Türken sind aus Nordrhein-Westfalen nicht mehr wegzudenken. Viele der Gastarbeiterkinder vom Bosporus haben sich an Rhein und Ruhr integriert, andere suchen noch nach einer eigenen Identität. Einige haben es in höchste Ämter geschafft, eine Minderheit flüchtet sich in den islamischen Fundamentalismus. Am Sonntag wird ein Teil der 840.000 türkischstämmigen Migranten in NRW über den Ausgang der Landtagswahl mitbestimmen.

Hasan: Ich habe zwei Heimatländer
„Ich habe zwei Heimatländer, wie viele andere Jugendliche in Deutschland auch“, sagt Hasan. Der 22-Jährige ist in Ostwestfalen geboren und aufgewachsen, hat genauso viele deutsche wie türkische Freunde, und spricht seiner Meinung nach „genauso gut oder genauso schlecht Deutsch wie Türkisch“. Hasan fühlt sich in Deutschland wohl, hat die deutsche Staatsangehörigkeit – aber er fühlt sich auch als „turkishguy“.
Das Ringen um eine eigene Identität kennzeichnet das Lebensgefühl vieler junger Deutscher mit Migrationshintergrund. Ihre Väter wurden als Arbeitskräfte im Wirtschaftswunderland gebraucht, blieben aber ihrem Heimatland innerlich verbunden, ohne dahin zurückzukehren. Die zweite und dritte Generation wuchs in einem Klima heran, das einerseits von Multikulti-Seligkeit, andererseits von Ausländerfeindlichkeit geprägt war.

Lale Akgün: eine deutsch-türkische Bilderbuch-Karriere
Dr. Lale Akgün sitzt seit Herbst 2002 für die SPD im Bundestag. Die Kölner Politikerin, die vor 51 Jahren in Istanbul geboren wurde und mit neun Jahren nach Deutschland kam, hat eine Bilderbuchkarriere hinter sich. Die Zahnarzt-Tochter studierte Medizin, Völkerkunde und Psychologie, erhielt eine Approbation als Psychotherapeutin, trat dann in die Dienste der Stadt Köln ein und brachte es in jungen Jahren zur stellvertretenden Leiterin der Jugendhilfe. Die mit einem türkisch-stämmigen Lehrer verheiratete Mutter eines Kindes nahm 1981 die deutsche Staatsangehörigkeit an – „nicht zuletzt, weil ich aktiv am politischen Geschehen teilhaben wollte“, erinnert sich Akgün. Die politischen Überzeugungen standen da schon fest, ein Jahr später folgte der Eintritt in die SPD. „Inhaltlich habe ich mich, auch bedingt durch meinen Beruf, stets besonders im Bereich der Sozial- und Gesundheitspolitik engagiert. Später kamen Migrations- und Integrationfragen hinzu.“ Von 1997 bis zum Einzug in den Bundestag leitete Akgün das dem NRW-Sozialministerium unterstellte Landeszentrum für Zuwanderung (LzZ). Selbstbewusstsein und ein bisschen Stolz schwingen mit, wenn Akgün erzählt, dass das LzZ unter ihrer Leitung aufgebaut wurde und eine „bundesweit einmalige Einrichtung“ sei. „Es berät die Landesregierung in Fragen der Migration und Integration und koordiniert die Aktivitäten zum Thema Zuwanderung auf Landesebene.“
Tief gekränkt fühlte sich Lale Akgün durch die von Altkanzler Helmut Schmidt Ende vergangenen Jahres vorgebrachte These, es sei ein Fehler gewesen, Gastarbeiter aus fremden Kulturen ins Land zu holen. Die Islam-Beauftragte der SPD-Bundestagsfraktion empfindet Schmidts Äußerung als ein „fatales politisches Signal: Ihr gehört nicht zu uns.“ „Selbstverständlich lässt die soziale Integration vieler Jugendlicher mit Migrationshintergrund der so genannten dritten Generation zu wünschen übrig“, so Akgün. Dabei solle aber nicht das Gros der jungen türkischen Juristen, Ärzte und Facharbeiter übersehen werden, fordert die SPD-Politikerin. „Sie haben sich vorbildlich in unsere Gesellschaft integriert und sind heute tragende Kräfte unseres ökonomischen Erfolgs.“

Türkische Migranten werden selbstbewusster
„Trotz der im Sinne der Integration positiven Entwicklung ist für viele Migranten der Nachfolgegeneration die kulturelle und nationale Verortung zwischen Deutschland und der Türkei und die Einbindung in die deutsche Gesellschaft problematisch“, konstatieren Andreas Goldberg und Martina Sauer in einer Studie der Essener Stiftung Zentrum für Türkeistudien. Doch im Gegensatz zu ihren Müttern und Vätern hätten sie „ein ausgeprägteres Selbstbewusstsein“.
Die Wirtschaftsleistung der Türken in Deutschland ist beachtlich. Nach einer Statistik des Zentrums für Türkeistudien gibt es mehr als 61.000 türkische Unternehmen mit einem Jahresumsatz von fast 29 Milliarden Euro. Über ein Drittel der türkischen Selbständigen sind im Einzelhandel tätig, die Gastronomie folgt mit einem knappen Viertel. "Allerdings schrumpften
diese Sektoren in den vergangenen Jahren zugunsten des Dienstleistungsbereichs“, erläutert der Direktor des Zentrums, Faruk Şen. Mit ihrer Geschäftstätigkeit sichern die türkischen Unternehmer nicht nur ihre eigene Existenz, sondern sie geben auch anderen Menschen Arbeit. Heute haben rund 320.000 Personen eine Beschäftigung in türkischen Unternehmen.
Ebenso wenig wie der Beitrag der Deutsch-Türken zur Ökonomie ist deren religiöses Leben zu übersehen. In den vergangenen Jahren sind in Deutschland eine Reihe neuer Moscheen gebaut worden. Die mehr oder weniger christliche Nachbarschaft war nicht gerade begeistert, aber nur eine Minderheit wie zum Beispiel die „Christliche Mitte“ (CM), die sich als Sammelbewegung für Konservative, Patrioten, Christen und enttäuschte ehemalige CDU-Mitglieder versteht, sieht in den muslimischen Gebetsstätten „Stützpunkte islamischer Eroberung“. In Köln mit seinen rund 80.000 Muslimen gibt es Pläne für eine zentrale, architektonisch auch als solche erkennbare Moschee. Sie soll deutschsprachig und Muslimen aller Länder zugänglich sein.

Türken wählen überwiegend SPD
Eher werde einem Moslem "die Hand abfaulen", hatte der sächsische Bundestagsabgeordnete Henry Nitzsche (CDU) getönt, als dass er CDU wähle. Nitzsche mag sich für türkische Voten kaum interessieren, für die Parteienvertreter an Rhein und Ruhr ist die Gruppe der Türkischstämmigen dagegen ein Faktor, der bei knappem Wahlausgang ins Gewicht fallen kann.
Bisher neigen Türken stark zur Sozialdemokratie. 2004 ergab eine Umfrage des Zentrums für Türkeistudien unter türkischen Migranten in NRW mit und ohne deutsche Staatsangehörigkeit, dass von diesen 60 Prozent die SPD, 17 Prozent die Grünen, 12 Prozent die CDU und 5 Prozent die FDP wählen würden. Grund für das schlechte Abschneiden der CDU ist vor allem die Haltung der Union zur doppelten Staatsbürgerschaft und zur EU-Politik gegenüber der Türkei. Auch fühlen sich viele türkische Arbeiter durch Sozialdemokraten besser vertreten. Letztlich beschäftigen drei Themen die Migranten bei ihrer Parteienwahl: In der Prioritätenliste steht ganz oben "Arbeitslosigkeit", an zweiter Stelle folgt "Ausbildungsstellen" und schließlich "Ausländerfeindlichkeit".
"Das christliche C in der Union schreckt keinen Türken ab", sagt Faruk
Şen, Direktor des Zentrums in Essen. Im Gegenteil: Unter religiösen Migranten - eben Moslems - hat die CDU überdurchschnittlich viele Anhänger. "Türken neigen generell zu konservativer Politik", sagt Şen. Je weniger sich Türken als Migranten fühlten und sich in die Gesellschaft integriert sähen, desto größer sei die Chance der Union auf ihre Stimmen.

Wer deutschen und türkischen Pass besitzt, verliert das Wahlrecht
In Nordrhein-Westfalen haben sich laut NRW-Innenministerium in den vergangenen fünf Jahren rund 100.000 Türken, Minderjährige eingerechnet, einbürgern lassen. Erst in den vergangenen Monaten erhielten sie von den Städten und Gemeinden, in denen sie leben, einen Fragebogen mit zweisprachigem Anschreiben zugeschickt. Sie sollten angeben, ob sie seit dem 1. Januar 2000 ohne Genehmigung deutscher Behörden die türkische Staatsbürgerschaft angenommen haben. Als Anlass für die flächendeckende Aktion wird die NRW-Landtagswahl am 22. Mai angegeben. Im Ministerium wird befürchtet, dass jemand ohne Wahlrecht zur Urne geht und die Entscheidung angefochten werden könnte. Denn laut Staatsbürgerschaftsrecht, das vor fünf Jahren novelliert wurde, verliert jemand automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft, wenn er eine andere erwirbt Das Zentrum für Türkeistudien rät Betroffenen schlicht, sich "rechtstreu" zu verhalten.
Wie viele andere Deutsch-Türken hat sich auch Hassan diese Situation nicht ausgesucht. „Wir sind nun mal hier geboren und hier aufgewachsen, und dies kann man nachher nicht mehr ändern.”
(Fotos:
http://www.turkischweb.com/D-Migration/seite109_old.htm, http://www.bundestag.de/mdb15/bio/A/akguela0.html, http://www.islam.de/75.php)

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