NORSA

LANDTAGSWAHL 2005

Rüttgers fehlen zwei Stimmen aus schwarz-gelbem Lager
Wahl des CDU-Ministerpräsident von heftigen Protesten begleitet
Von Markus Dufner

Düsseldorf (22.06.05) - Die Wahl von Jürgen Rüttgers zum neuen Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen war von heftigen Protesten begleitet. Vor dem Düsseldorfer Landtag demonstrierten rund 800 Studenten, Schüler und Frauen gegen die von Schwarz-Gelb geplanten Studiengebühren und Kürzungen bei Frauenhäusern. Für den bisherigen Fraktionsvorsitzenden der CDU, der keinen Gegenkandidaten hatte, stimmten 99 Abgeordnete, 87 votierten mit Nein. Einer enthielt sich der Stimme. Damit fehlten Rüttgers mindestens zwei Stimmen aus dem eigenen Lager. Rüttgers wirkte nach seiner Wahl ernst. "Egal, welchen Streit wir noch ausfechten, eines verbindet uns alle: Der Wille, dieses Land in eine gute Zukunft zu führen", sagte der neue Ministerpräsident.

CDU und FDP hatten am 22. Mai die Landtagswahl klar gewonnen und damit die letzte rot-grüne Regierung in einem Bundesland abgelöst. In ihrem Koalitionsvertrag haben CDU und FDP einen strikten Sparkurs beschlossen. Die Kohlesubventionen sollen in den nächsten fünf Jahren um insgesamt 750 Millionen Euro reduziert und nach 2010 ganz gestrichen werden. Die Förderprogramme des Landes will die neue Regierung um bis zu 20 Prozent kürzen.
 
Foto (Kölner Stadt-Anzeiger): Koalitionäre Pinkwart (FDP) und Rüttgers

Grüne kündigen auch Unterstützung an
Grünen-Fraktionschefin Sylvia Löhrmann versicherte unterdessen, Jürgen Rüttgers in einigen Punkten auch zu unterstützen zu wollen, beispielsweise in der Frage der Kohle-Subventionen. Gleichzeitig sprach sie sich aber auch gegen die Einführung von Studiengebühren aus. Damit unterstützte sie die derzeit vor dem Landtag protestierenden Studenten. Auch Hannelore Kraft, Oppositionsführerin der SPD im Düsseldorfer Landtag, bekräftigte nach der Wahl Jürgen Rüttgers noch einmal ihr "Nein" zur Einführung von Studiengebühren.
Sein Kabinett will Jürgen Rüttgers morgen bekannt geben. Klar scheint aber bereits jetzt zu sein, dass Andreas Pinkwart (FDP) Innovationsminister und stellvertretender Ministerpräsident wird. Sein Parteikollege Ingo Wolf ist als Innenminister vorgesehen. Die Christdemokraten Helmut Linssen sollen Finanzminister, Karl-Josef Laumann, Arbeitsminister, Christa Thoben Wirtschaftsministerin und Eckhard Uhlenberg Umweltminister werden. Als zweite Frau im Kabinett wird die CDU-Bundestagsabgeordnete Michaela Noll aus Haan gehandelt. Sie soll das Amt einer Generationen-Ministerin übernehmen.

Kumpel, Studenten und Frauengruppen protestieren gegen Rüttgers-Wahl
Die Demonstranten vor dem Landtag kritisierten mit Sprechchören und auf Plakaten die geplante Einführung von Studiengebühren im bevölkerungsreichsten Bundesland. Sie trugen Transparente mit Aufschriften wie "Bildung ist tot. Danke, Rüttgers", "Ihr pfeift auf Bildung, wir auf Gebühren" und „Reiche Eltern gesucht“. Im Ruhrgebiet verteilte die Bergarbeitergewerkschaft IGBCE rund 70.000 Flugblätter gegen den Ausstieg aus den Kohlesubventionen. Die Gewerkschaft warnte vor einem „explosionsartiger Anstieg“ der Arbeitslosigkeit und einem „katastrophalen Strukturbruch“ in den Steinkohle-Revieren.

Die Protestaktionen wurden vom DGB in NRW, der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und der scheidenden Landesumweltministerin Bärbel Höhn (Grüne) unterstützt. DGB-Landesvorsitzender Walter Haas sagte in Düsseldorf, wer die Ergebnisse der Bildungsstudie PISA ernst nehme, dürfe keine neuen Barrieren für ein Studium errichten. GEW-Landesvorsitzender Andreas Meyer-Lauber warnte davor, Studierwillige mit Gebühren abzuschrecken. Höhn nannte die Einführung von Gebühren für das Erststudium ein "fatales politisches Signal". Sie förderten die "Schere zwischen Arm und Reich". Gerade junge Menschen aus finanziell benachteiligten Familien würden auf diese Weise vom Studium abgeschreckt.

Während die schwarz-gelbe Landesregierung in den Startblöcken steht, droht der CDU/FDP Koalition im Düsseldorfer Stadtrat möglicherweisen das Aus. Oberbürgermeister Joachim Erwin (CDU) wertete die kommunalpolitischen Differenzen in der Landeshauptstadt als „kein gutes Signal“ für die Zusammenarbeit von CDU und FDP im Lande. Die Düsseldorfer FDP-Chefin Gisela Piltz hingegen warf der CDU einen klaren Bruch des Koalitionsvertrags vor. Die CDU hatte im Hauptausschuss des Stadtrates gegen die Stimmen der mitregierenden FDP und der Opposition beschlossen, Besitzanteile für das neue defizitäre Düsseldorfer Stadion, vollständig zu übernehmen.

Rüttgers warnt vor übertriebenen Erwartungen
Reaktionen aus Nordrhein-Westfalen am Tag nach der Landtagswahl
Von Markus Dufner
Der Wahlsieger in Nordrhein-Westfalen, Jürgen Rüttgers, hat rasche Koalitionsverhandlungen angekündigt. "Wir werden sehr schnell mit der FDP Gespräche aufnehmen", sagte der CDU-Spitzenkandidat in Düsseldorf. Die neuen Regierungspartner würden "dafür sorgen, dass es ein klares Programm gibt".
Kein Geld für
große Programme
Rüttgers warnte allerdings vor übertriebenen Erwartungen. Er wolle nicht den Eindruck erwecken, dass er alles könne. Bei der angespannten Haushaltslage gebe es kein Geld, um große Programme aufzulegen. Der designierte Ministerpräsident kündigte an, sich zunächst um konkrete Dinge zu kümmern. Dazu zähle er die Bekämpfung des Unterrichtsausfalls und den Abbau der Bürokratie. Er wolle auch die Wähler, die nicht der CDU die Stimme gegeben haben, mit seinem Politikstil überzeugen

Schartau: Kampf „wie gegen Windmühlenflügel“
Nach Einschätzung des Landesvorsitzenden der SPD, Harald Schartau, hat die SPD im Wahlkampf teilweise "wie gegen Windmühlenflügel" kämpfen müssen. Den eigenen Rücktritt schloss Schartau aus. Es sei nicht seine Auffassung von politischer Verantwortung, sich nach einer Niederlage "in die Büsche zu schlagen".

FDP sieht sich vor „Herkules-Aufgabe“
Als "historischen Tag für NRW" bewertete FDP-Spitzenkandidat Ingo Wolf den Ausgang der Wahl. FDP und CDU müssten nun eine "Herkules-Aufgabe" erledigen und hätten die Chance, ein "neues NRW zu bauen". Andreas Pinkwart führt die Verluste der FDP bei der Landtagswahl auf eine Konzentration im Wahlkampf auf die beiden großen Parteien zurück. Die "Duellsituation" habe dazu geführt, dass insbesondere über CDU und SPD gesprochen wurde.

Grüne Umweltministerin Höhn: SPD wurde „abgewatscht“
Dieselben Gründe für die Verluste der Grünen sieht die Landesvorsitzende der Grünen, Britta Hasselmann. Die Polarisierung auf die beiden Spitzenkandidaten der großen Parteien habe möglicherweise den Grünen geschadet. Umweltministerin Bärbel Höhn sagte, nicht die Grünen sondern die SPD sei „kräftig abgewatscht“ worden.

Wer aus Rüttgers´ Kompetenzteam wird Minister?
Zwei Posten wird Rüttgers wohl der FDP überlassen müssen. Als wahrscheinlich gilt, dass deren Spitzenkandidat Ingo Wolf bedient würde. Zur Zeit gibt es neben dem Regierungschef im NRW-Kabinett elf Minister. Ob es zu einer Verkleinerung kommen würde - wie nach der Wahl in Schleswig-Holstein - ist im Moment noch offen. Viele der potenziellen Ministerkandidaten kommen aus Rüttgers' "Zukunftskommission" wie der frühere CDU-Oppositionsführer Helmut Linssen (62) und die ehemalige Berliner Kultursenatorin Christa Thoben (63) (siehe Foto rechts). Die Nominierung der beiden altgedienten CDU-Politker als Mitglieder seines Kompetenzteams brachte Rüttgers den Spott des rot-grünen Gegners ein. „Polit-Pensionäre“ müssten einspringen, weil CDU-Politiker aus der ersten Reihe dem ungeliebten Landesvorsitzenden Körbe gegeben hätten.
Helmut Linssen, derzeit erster Vizepräsident des NRW-Landtags, soll das Finanzressort übernehmen. Der einstige innerparteilichen Widersacher von Rüttgers war über seine Nominierung sichtlich erfreut. Nach 25 Jahren im Landtag würde für den Unternehmer vom Niederrhein ein Traum in Erfüllung gehen.
Christa Thoben, designierte Wirtschaftsministerin, spricht aus eigener Erfahrung, wenn sie sagt, Regieren sei schöner als Opposition. Neben der Länderebene kennt die CDU-Politikerin auch die Bundespolitik. Im Kabinett Kohl war sie ab 1995 Staatsekretärin im Bundesbauministerium.
Für den Fall einer schwarz-gelben Regierungsübernahme in NRW steht für den Arbeitsmarktexperten der CDU, Karl-Josef Laumann, ein Abbau von Arbeitsplätzen im Landesdienst auf der Agenda. „Wenn wir jedes Jahr 1,5 Prozent Stellen einsparen, können wir die Zahl 4000 in ein paar Jahren erreichen.“ Der 47-Jährige Münsterländer, der seit 1990 im Bundestag sitzt, ist für den Posten des Arbeits-, Sozial- und Gesundheitsministers vorgesehen.
Der erst 38-Jährige Oliver Wittke gehört zu den politischen Talenten in der NRW-Union. Er sah bereits vor Jahren neuen gesellschaftlichen Realitäten ins Auge und versuchte sie für die CDU nutzbar zu machen. Zusammen mit türkischstämmigen Christdemokraten in NRW gründete er Anfang der 90er Jahre die "Deutsch Türkische Union", die nun auch bundesweit aktiv ist. Wittke könnte das Ressort des Grünen-Ministers Michael Vesper (Städtebau, Kultur und Sport) beerben. Als Oberbürgermeister von Gelsenkirchen –  aus dem Amt wurde er 2004 abgewählt – verfügt er über Erfahrungen mit den Problemen einer von hoher Arbeitslosigkeit und industrieller Auszehrung geprägten Region.
Zur "Zukunftskommission“ zählt auch der Landwirt Eckhard Uhlenberg. Der 57-Jährige Landtagsabgeordnete aus Soest wird als möglicher Agrarminister gehandelt. Ein weiterer Kandidat für höhere Weihen - möglicherweise als Bildungsminister - ist der CDU-Fraktionsgeschäftsführer im Landtag, Helmut Stahl (57), ein weiteres Mitglied der Zukunftskommission. Der Bonner war Staatssekretär unter Bundesforschungsminister Rüttgers. Außerhalb der Zukunftskommission wird ein weiterer Name häufig genannt: der von Regina van Dinther (47), Vorsitzende der NRW-Frauen-Union. Die Landtagsabgeordnete aus dem Ennepe-Ruhr-Kreis könnte Familienministerin werden.

Mangel an Führungspersonal
Rüttgers' Personalangebot wird auch durch die Erfordernisse auf Bundesebene begrenzt. Der CDU mangelt es an Führungspersonal. Wichtige NRW-Vertreter der CDU in Berlin gelten als Stützen in oder unter einer Bundesregierung Merkel - wie der im Niederrhein einflussreiche Bundestagsabgeordnete und Fraktionsvize im Bundestag, Ronald Pofalla. Ebenso dürfte Wolfgang Bosbach als Innenpolitiker eher weiterhin eine Rolle im Bund als auf Landesebene spielen wollen. Auch ein anderes Modell scheidet aus: Friedrich Merz in einem NRW-Kabinett. Dem Sauerländer wird kein besonders inniges Verhältnis zu Rüttgers nachgesagt. (Fotos:
www.wdr.de, www.cdu-nrw-fraktion.de)

Regisseur contra Philosoph
Steinbrück und Rüttgers: Beobachtungen im NRW-Wahlkampf
Von Markus Dufner
„Jürgen Rüttgers - ganz persönlich“
Ein Februartag im Wuppertaler Von der Heydt-Museum. Zum siebten Mal hat der Spitzenkandidat der CDU in Nordrhein-Westfalen eingeladen, ihn einmal „ganz persönlich“ kennen zu lernen. Jürgen Rüttgers hat beizeiten erkannt, dass er sich dem Wahlvolk zeigen muss. Dass er, dem Blassheit und Beliebigkeit nachgesagt werden, an Profil gewinnen muss. Dass er selbst CDU-Mitglieder erst noch überzeugen muss. Rüttgers, der 53-Jährige gebürtige Kölner, erzählt viel Privates, aus seiner Jugend, seinem Alltag mit Ehefrau Angelika und seinen drei Söhnen. Seinen Sommerurlaub verbringt der studierte Jurist immer in Südfrankreich. Die Rüttgers-Familie fährt mit dem Auto, „so wie die meisten Leute im Land“, betont d
er Familienvater. „Obendrauf ein Gepäckträger, im Gepäck viele Kinderspielzeuge und ein kleines Dreirad“ – das jüngste Kind ist erst fünf.

Ein Hanseat – im Rheinland integriert
Peer Steinbrück hängt das Image des kühlen Pragmatikers und Aktenfressers an. Viele vermissen bei dem Diplom-Volkswirt die landesväterliche Ausstrahlung eines Johannes Rau. Obwohl der 58-Jährige seit 30 Jahren in Nordrhein-Westfalen lebt, fehlt ihm der Stallgeruch eines rheinischen Sozialdemokraten. Der gebürtige Hamburger mit der flinken Zunge, der vor zweieinhalb Jahren im fliegenden Wechsel das Ministerpräsidenten-Amt von Wolfgang Clement übernahm, bezeichnet sich manchmal scherzhaft als „Kabeljau“. Dass er nicht an die Waterkant zurück ging, daran sei seine Frau, eine Rheinländerin, und die hiesige Bevölkerung schuld, meint der Vater dreier erwachsener Kinder augenzwinkernd. "Nordrhein-Westfalen hat Erfahrung mit der Integration von Zuwanderern.“
Im Wahlkampf schlüpft Steinbrück in viele Rollen. Er gibt den geduldigen Landesvater, der Autogramme in SPD-Parteibücher schreibt; den redlichen Politiker, der den Bürgern gegenüber auch Fehler einräumt, oder er präsentiert sich als Lenker eines wirtschaftlich bedeutsamen Bundeslandes, das sich mit Australien messen kann. Eine ganz neue Rolle probt der Fan von Kriminal-Romanen in der Fussgängerzone im Herford. Mit ausgestrecktem Arm und Zeigefinger ruft er, einem US-Präsidentschaftskandidaten ähnelnd, in die Menge: „Das, was ich will, ist Ihre Stimme.“ Eine Pose, die nicht richtig zu dem humorvollen, aber im Grunde doch nüchternen Hanseaten passt. Steinbrück ist Regisseur, nicht Schauspieler.

SuPEER!“ oder „Peer … wer?“
Mit „Peer … wer?“-Plakaten versucht die CDU das Bild eines Ministerpräsidenten zu zeichnen, der in dem Bundesland, das er regiert, weitgehend unbekannt ist. Vor kurzem, auf dem Neusser Mai-Markt, wurde der Ministerpräsident von einem Aussteller mit „Guten Tag, Herr Bürgermeister!“ begrüßt. Trotzdem liegt Steinbrück in Umfragen, was die Popularität betrifft, um Längen vor dem Herausforderer Rüttgers. Natürlich kann sich Raus früherer Büroleiter nicht an den Beliebtheits-Werten des langjährigen Ministerpräsidenten aus Wuppertal messen. Aber die Partei wählte Steinbrück mit 96 Prozent zu ihrem Spitzenkandidaten – ähnliche Werte erzielte nur „Bruder Johannes“. Die Wahlkampfstrategie der SPD ist denn auch auf Peer Steinbrück abgestellt. Auf Plakaten sieht man den Ministerpräsidenten im Großformat einen „klaren Kurs“ vorgeben. Bei Wahlkampfveranstaltungen halten Jusos Pappschilder mit der Aufschrift „suPEER!“ hoch. Die gebeutelte NRW-Sozialdemokratie hat sich geschlossen hinter Steinbrück versammelt, sieht in ihm den einzigen Hoffnungsträger bei der Wahl am Sonntag.

Die CDU traut ihrem Kandidaten nur halb
Der in der CDU lange Zeit umstrittene Rüttgers, letzter Forschungsminister im Kabinett Kohl, wird auf Wahlkampfplakaten fast versteckt. Entweder ist er von einer Gruppe Jugendlicher oder Senioren umgeben – allein steht er nicht. Zwar stärkten die Christdemokraten ihm bei der Wahl zum Landesvorsitzenden mit fast 96 Prozent Ja-Stimmen den Rücken, aber immer wieder vermittelt die Partei den Eindruck, dass sie ihrem Spitzenkandidaten nicht besonders viel zutraut. Es gelingt Rüttgers nur schwer, den von der SPD gern gemachten Vorwurf zu widerlegen, er wechsle häufig seine Position. Wahltaktisch verhält sich der Herausforderer nicht immer klug. Mit seiner Äußerung, das Christentum sei anderen Religionen überlegen, lehnte er sich in der Talkshow von Michel Friedman weit aus dem Fenster. Dafür erntete Rüttgers Kritik nicht nur von der SPD und von Juden und Muslimen, sondern auch aus der CDU.

Grundsätzlich-Philosophisches aus Rüttgers´ Feder
„Worum es heute geht“, sagt Jürgen Rüttgers schließlich in seinem im Wahlkampf erschienen Buch mit dem gleichlautenden Titel. Darin breitet er allerhand Grundsätzlich-Philosophisches aus wie Betrachtungen über die „postmoderne Beliebigkeit“, „die Neue Moderne“ oder „Kants Irrtum“. Der Autor schließt mit der Mahnung: „Es darf nicht dazu kommen, dass das neue Zeitalter verloren geht. Daher muss für uns gelten: wider den Zeitgeist.“ Überhaupt hat sich Rüttgers im Wahlkampf als Wertkonservativer geoutet, der Pünktlichkeit, Fleiß und Anstand zu Primärtugenden erhebt.

Der Amtsinhaber als Herausforderer
Amtsbonus hin oder her – Ministerpräsident Steinbrück muss aufgrund der gegenwärtigen Schwäche seiner Partei in die Offensive gehen. Vielleicht wirkt er deshalb im Wahlkampf oft nicht wie der Amtsinhaber sondern wie der Herausforderer. So ist auch im ersten, von RTL übertragenen TV-Duell mit Jürgen Rüttgers Steinbrück´sche Attacke angesagt. „Sie sind nicht richtig informiert“, fährt der SPD-Mann dem CDU-Kandidaten in die Parade. „Es ist Steinbrück mehrfach gelungen, Rüttgers in die Enge zu treiben und vor allem seine Glaubwürdigkeit in Frage zu stellen“, urteilt der Duisburger Wahlforscher Thorsten Faas. Aus den meisten Umfragen ging der Ministerpräsidenten als Punktsieger hervor. Die zweite, von den Öffentlich-Rechtlichen gesendete Fernseh-Debatte gestaltet sich ausgeglichener. Der Oppositionsführer kann bei den Themen Wirtschaft, Arbeitsmarkt und Bildung punkten; Steinbrück wird von den Befragten als sympathischer und kompetenter beurteilt. Möglicherweise ein taktischer Fehler Steinbrücks: Er ließ sich auf das Rüttger´sche Gedankenspiel ein, was passiere, wenn Rot-Grün in Düsseldorf verliere. Dann werde es für Bundeskanzler Schröder bestimmt nicht bequemer, so der Ministerpräsident. Aber auch nach einer Niederlage wäre Rot-Grün in Berlin nicht am Ende. Nach einer Stunde Rede-Duell sind Rüttgers die Strapazen anzusehen, Steinbrück scheint den Stress besser verdaut zu haben.

Am Ende doch ein Déjà-vu?
Vom Typus her ist Rüttgers kaum ein Machtmensch. Dem früheren Parlamentarischen Geschäftsführer der CDU, dessen analytische Fähigkeiten gelobt werden, ist es nicht leicht gefallen, die für einen Wahlkämpfer so wichtigen einprägsamen Formulierungen zu finden. Jetzt, auf der Zielgeraden, zählt das Durchhaltevermögen. In Umfragen weit vorn zu liegen und dann doch noch zu verlieren – das hat Rüttgers schon einmal vor fünf Jahren erlebt, als er als Spitzenkandidat an Wolfgang Clement scheiterte. Der CDU-Mann führte bis kurz vor der Wahl in der Wählergunst deutlich, dann kam die CDU-Spendenaffäre, er distanzierte sich nur halbherzig von seinem Förderer Helmut Kohl, landete mit der "Kinder statt Inder"-Kampagne einen fulminanten PR-Flop und verlor schließlich noch.

Karriereende bei Niederlage
Diesmal hängt noch mehr vom Wahlausgang ab als damals. Nicht nur für den NRW-Spitzenkandidaten, dessen politische Karriere bei einer erneuten Niederlage wohl beendet wäre, sondern auch für die Union in Berlin: Sie würde nach der jüngsten Siegesgewissheit in ein tiefes Loch stürzen. Auch wenn die CDU am Sonntag die Wahl in NRW gewinnt, könnte ihr Spitzenkandidat Jürgen Rüttgers zum großen Verlierer werden. Gelingt es dem CDU-Frontmann nicht, im eigenen Wahlkreis ein Direktmandat zu holen, könnte eine Besonderheit des nordrhein-westfälischen Wahlrechts seinen Landesvater-Träumen ein unrühmliches Ende bereiten. Unterliegt Rüttgers wie damals, bei der Landtagswahl 2000 im Wahlkreis 12 Erftkreis II, dann könnte es für ihn bei vielen CDU-Direktmandaten eng werden.

Sind 39 Jahre SPD genug?
Das CDU-Argument, 39 Jahre CDU in Nordrhein-Westfalen seien genug, kontert Steinbrück mit dem Hinweis auf Bayern und Baden-Württemberg. Im Freistaat sei die CSU schon seit 59 Jahren an der Regierung. Es gehe nicht um die Dauer einer Regierungszeit, sondern wer perspektivisch das bessere Konzept zu biete habe. „Ein Fünftel aller Wähler entscheidet sich in den letzten vier Tagen“, beruhigt der Ministerpräsident sich und seine Genossen. „Wenn ich gewinne, dann bin ich frei, dann habe ich jede Option“, sagt er vieldeutig.                                                                                   (Fotos: NORSA)

Kunststücke am Reck
Wahlkampfauftakt in Nordrhein-Westfalen
Von Markus Dufner
Nimmt man die Besucherzahlen beim Wahlkampfauftakt in Nordrhein-Westfalen als Gradmesser für den Ausgang der Landtagwahl, dann ist schon alles klar: 10.000 CDU-Anhänger in der Arena in Oberhausen und 8000 SPD-Sympathisanten in der Dortmunder Westfalenhalle am Samstag, nur ein Häuflein Grüner in Essen und Gelsenkirchen. Während sich bei der Union sechs Wochen vor dem Wahltag angesichts steigender Umfragewerte Siegesstimmung breit macht, hoffen die Sozialdemokraten, die seit 39 Jahren an der Macht sind, noch auf einen Stimmungsumschwung in letzter Minute.
Die CDU-Veranstaltung im Herzen des Ruhrgebiets gleicht in vielem den Shows der Parteien im US-Wahlkampf. Der Turner und CDU-Bundestagsabgeordnete Eberhard Ginger und ein Clown zeigen Kunststücke am Reck, jugendliche Break-Dancer wirbeln übers Parkett und eine Imitation der schwedischen Popgruppe Abba steuert Nostalgie bei. Die früher eher biederen Christdemokraten sind wahlkampftechnisch up to date und versuchen damit das Imgage ihres blässlichen Spitzenkandidaten Jürgen Rüttgers sowie programmatische Unschärfen zu übertünchen.
Alle, die in der Union etwas zu sagen haben, sind gekommen: die CDU-Bundesvorsitzende Angela Merkel, CSU-Chef Edmund Stoiber, die Landesfürsten Roland Koch und Christian Wulff. Merkel weiß, dass der Wahlausgang im bevölkerungsreichsten Bundesland wahrscheinlich auch ihre politische Zukunft bestimmt. Sie weiß, dass es noch zu früh ist zum Feiern und ruft deshalb zu einem engagierten Wahlkampf um jede Stimme auf. Die CDU müsse mit „aller Kraft und jeder Faser“ für einen Wechsel im Land kämpfen. Stoiber, der Fast-Kanzler von 2002, sagt voraus, die NRW-SPD werde ihre „verdiente Bruchlandung“ erleben. Dabei würde dies seine Aussicht auf eine erneute Kanzler-Kandidatur eher schmälern.
Auch für den amtierenden Bundeskanzler geht es um viel. Kippt die letzte rot-grüne Koalition auf Landesebene, dann könnte damit auch im Bund bald Schluss sein. Für die „verdammt schweren Aufgaben“, die Gerhard Schröder in Berlin bevorstehen, braucht er Unterstützung aus Düsseldorf. Nach einer Niederlage von Ministerpräsident Peer Steinbrücks ginge für die SPD auch im Bundesrat nichts mehr. In seiner halbstündigen Rede macht der Kanzler den Genossen an Rhein und Ruhr Mut: Trotz der schlechten Umfragewerte könne die SPD das Ruder noch herumreißen.
Das Nordlicht Steinbrück hat nach Startschwierigkeiten im Amt sein Profil geschärft. Ob es reicht, bei den Sozialdemokraten im Westen anerkannt zu sein, hängt davon ab, ob er die SPD-Klientel zurückgewinnen kann. Gerade die „Kumpel“ im Ruhrgebiet haben sich in den vergangenen Jahren enttäuscht von „ihrer Partei“ abgewandt. Auf Tausenden von Wahlkampf-Plakaten zielt Steinbrück auf dieses Wählerpotenzial: „Arbeitsplätze verspreche ich nicht. Aber ich kämpfe jeden Tag für sie.“
Steinbrück macht in Dortmund klar, dass die SPD in Nordrhein-Westfalen auschließlich für sich und für niemand anderen Wahlkampf mache. Auch um Stimmen des grünen Koalitionspartners wird geworben. „Das Wohl des Landes hat eine höhere Priorität als koalitionspolitische Überlegungen.“ Wer ihn als Ministerpräsidenten wolle, müsse die SPD wählen.
Trotz der Visa-Turbulenzen sind die Grünen in NRW stabil. Außenminister Joschka Fischer gestand in seiner kämpferischen Rede vor dem kleinen Parteitag erneut eigenes Fehlverhalten bei der Visa-Vergabe ein. „Da rege ich mich auch über meine eigenen Fehler maßlos auf.“ Auch von einer angeschlagener Galionsfigur Fischer erhoffen sich die Grünen Unterstützung. Seine Aussage vor dem Untersuchungsausschuss Wochen vor der Landtagswahl, so hofft man, wird Druck von der Partei nehmen. Wie ihr roter Koaltionspartner machen auch die grünen Spitzenkandidaten Bärbel Höhn und Michael Vesper auf Optimismus. Der stellvertretende Ministerpräsident glaubt, dass die rot-grüne Koalition noch einmal fortgesetzt werden kann.
Bei den Liberalen stehen auch in der heißen Wahlkampfphase innerparteiliche Auseinandersetzung auf der Tagesordnung. Der FDP-Ehrenvorsitzende Otto Graf Lambsdorff griff Parteichef Guido Westerwelle scharf an. „Die FDP kommt mit ihren Thesen einfach nicht so rüber, wie es notwendig und im übrigen auch gerechtfertigt wäre.“ Dieses Vermittlungsproblem „hat auch mit Personen zu tun, die die Inhalte schließlich auch in der Öffentlichkeit vertreten müssen“. Lambsdorff forderte eine größere Rolle von Fraktionschef Wolfgang Gerhardt. Anders als Westerwelle habe Gerhardt dem Versuch, die FDP zur „Spaßpartei“ zu machen, immer skeptisch gegenübergestanden
.

[Home] [Wir über uns] [Services] [Pressemitteilungen] [Terminkalender] [Firmenportrait] [News] [Forum] [NRW] [Landtagswahl 2005] [Medien] [DWJN] [NORSAchat] [Reportagen] [Zeitgenossen] [Links] [Kontakt] [Español]