NORSA

TAGEBUCH

Am 19. August 2005 werden meine Frau und ich, nach zweijähriger Arbeit für den deutschen Entwicklungsdienst (DED), den Niger verlassen, der in den letzten Wochen mit seinen erheblichen Ernährungsproblemen Schlagzeilen machte. Ein erster Überblick über die Herausforderungen dieser Jahre, sowie andere Begegnungen zwischen der christlichen und der muslimischen Welt, die in folgenden Beiträgen bei NORSA vertieft werden sollen, seien mit einem Überblick auf meine Zeit im Niger gestartet.

Hunger im Land
Ein Blick zurück auf den Sommer und Herbst des Jahres 2004 gibt Auskunft über mittelfristige Ursachen der aktuellen Ernährungskrise: Die Regenperiode fällt in großen Teilen des Niger und der ganzen Region sehr schwach aus. Das Getreide, im Niger vor allem Hirse, bekommt meist viel zu wenig Wasser um wirklich in die Höhe schießen zu können. Und der monatelange Raubzug der Heuschrecken durch Westafrika hinterließ auch in Teilen dieses Landes Spuren der Verwüstung. Die Ernte fällt in vielen Regionen des Landes entsprechend schlecht aus. Und doch. Diese verheerenden Entwicklungen vollzogen sich vor einem Jahr. Und sie vollziehen sich in dieser Region und dem Niger im Abstand von Jahren oder Jahrzehnten immer wieder. Die letzte schwere Ernährungskrise war in der Phase zwischen 1981 und 1985.

Ende Juli 2005 sind wir Mitten in der Regenzeit und der Phase in der für erste Getreidesorten gerade die Ernte beginnt, die sich aber für die Gesamtheit der Hauptanbauprodukte noch über Monate hinziehen wird. Die Speicher der meisten Konsumenten sind aber schon länger leer. Und die Getreidepreise (auch sonst in dieser Periode hoch) sind im Jahr 2005 in Rekordhöhen gestiegen, während die Preise des zu dieser Jahreszeit abgemagerten Schlachtviehs periodisch üblich niedrig sind. So stellt sich, neben der Herausforderung den notleidenden Menschen heute und jetzt effektiv zu helfen, die Frage nach den strukturellen Problemen und Lösungsansätzen. Wie also kann man langfristig die Wirkung solcher Katastrophen durch strukturelle Änderungen verringern?

Die strukturellen Probleme des Niger sind massiv: Die zentralen Entwicklungsindikatoren zeigen im Falle dieses Landes ein außergewöhnlich niedriges Entwicklungsniveau an. Beim HDI nimmt die Republik Niger weltweit den vorletzten Platz ein. Das Land gehört nach allen Indikatoren zur Gruppe der „Least Developed Countries (LLDC)“ innerhalb der Gruppe der „Low Income Countries“. Der Bildungsstand der Bevölkerung ist gemessen am UN-Education-Index (2000: 0,16) der niedrigste der Welt. Das Selbsthilfepotential der armen Bevölkerung ist sehr gering ausgebildet. Charakteristisch für breite Teile der Bevölkerung ist die Erwartungshaltung gegenüber dem Staat und der internationalen Gebergemeinschaft.

Ein Hauptkonfliktfeld im Land bezieht sich auf die Nutzung der natürlichen Ressourcen. Das Spannungsfeld zwischen einer stark wachsenden Bevölkerung und der zunehmenden Degradierung der landwirtschaftlich nutzbaren Flächen wird größer. In einem Land in dem vor 100 Jahren wohl nicht viel mehr als 1 Million Menschen lebten, leben heute 12 Millionen. Die Produktivität der Landwirtschaft und Viehzucht hat keine vergleichbare Zunahme erfahren. Bleibt die Bemühung um Ausweitung der Anbauflächen. Doch die kontinuierliche Ausweitung des Ackerbaus nach Norden führt zu einem zunehmenden Konfliktpotential zwischen den traditionellen Viehhaltern und den Ackerbauern. Positiv fallen hingegen u. a. der ruhige Verlauf von Kommunal-, Parlaments und Präsidentschaftswahlen im „Megawahljahr 2004“ auf. Die, zudem im Falle der Kommunalwahlen, mehrmals verschobenen Wahlen beanspruchten allerdings einen erheblichen Teil der Energie von Politik und Gesellschaft. Die Kommunalwahlen öffneten aber den Weg zum Beginn der Dezentralisierung.

Ein sehr wichtiger Punkt ist zweifellos eine Thematisierung der Bevölkerungsexplosion. Ein Beispiel: Vor zwei Wochen informierte uns unser Wächter, dass seine Frau in der Nacht einem Sohn das Leben geschenkt habe. Wir haben ihm gratuliert und ein schönes Paket für Mutter und Baby geschnürt. Ein privates Glück. Und doch, es ist das achte Kind unseres ja keineswegs wohlhabenden Wächters. Dazu ist im Prinzip noch mindestens ein bereits wieder verstorbenes Kind dazuzurechnen. Damit liegt unser Saidou also voll im nigrischen Trend und der heißt, dass die im nationalen Durchschnitt gebärende Nigrerin sich in wenigen Jahren von 7 auf 8 Babys gesteigert hat. Und das im wohl zweitärmsten Land der Welt wo sonst nichts, nicht das Schulsystem, nicht die Gesundheitsbasen, nicht das Straßennetz etc. in auch nur annähernd schnellem Tempo zunehmen und in dem guter Boden seltener wird. Eine gesellschaftliche Katastrophe also. Aber eine über die man nur schwer reden kann, will man nicht den gesellschaftlichen Konsens verlassen. Oder doch nicht? Die Hungersnot dieses Jahres, nachdem regierenden Präsidenten, die Tandja, genannt, hat selbst führende Personen des Staats dazu bewegt, das Wort Bevölkerungskontrolle in den Mund zu nehmen und somit den NGOs signalisiert, das sich hier eine Lücke auftun könnte, im schlechten Sinne in neues „In-Thema“ für das man schnell Anträge bei den internationalen Finanziers stellen sollte, im guten Sinne vielleicht der Start zu einer Besinnung.

Dialog der Religionen
Das Megawahljahr 2004 (Kommunal-, Parlaments- und Präsidentschaftswahlen) hat der katholischen Kirche des Landes des Niger zu einer neuen Rolle verholfen. Als die Parteien, speziell die der Regierung und die der Opposition, sich nicht auf einen Fahrplan einigen konnten, kam der Ruf nach politisch unabhängigen neutralen Schiedsrichtern auf. Den religiösen Führern des Landes traute man die Erfüllung dieser Aufgabe zu: Neben zwei führenden Repräsentanten des Islam, war es der Kopf der Katholiken des Niger und Bischofs von Niamey, Msgr. Michel Cartateguy, den die Bitte um diesen „Dienst am Land“ erreichte.

Und so gut haben es die drei gemacht, dass sich daraus nicht nur Ansätze einer rechtlichen Fixierung des „Wächterrats“ im politischen System des Staats ergaben und eine Fülle neuer und enger Kontakt des Bischofs zu muslimischen Entscheidungsträgern. Das Jahr 2005 sieht auch eine Abfolge von Konferenzen um auf nationaler wie regionaler Ebene praktische Spielregeln für diese neue Kooperation zu entwickeln. Zwischen dem 11. und dem 13. Januar 2005 trafen sich die religiösen Führer auf nationaler Ebene in der Hauptstadt Niamey um einen Rahmen auf nationaler Ebene zu schaffen. Regionale Konferenzen gab es seitdem in den Departments-Hauptstädten und für diese Departments: Maradi und Zinder.

Bei Bischof Cartateguy lerne ich Elhadj Barham Cheikh kennen. Er stellt sich als Bruder des noch recht jungen neuen Chefs der Tidjane-Bruederschaft des Landes heraus, mit denen der Bischof sehr gut im Dialog ist. Ihr Zentrum liegt in Kiota, 130 km weg von der Hauptstadt. Bald stellt sich heraus, dass er nicht nur der Herausgeber der Zeitschrift der Bruderschaft ist, des AL MAOULID-Magazins. Er ist auch der Chef des lokalen Gemeinschaftsradios und Vorsitzender des frisch gegründeten regionalen Netzwerks der Gemeinschaftsradios von Dosso. Eine für mich äußerst interessante Mischung.

Der positiven Entwicklung auf Ebene der religiösen Führer steht also eine gegenläufige (?) Entwicklung der Radikalisierung. Diverse Einheimische sprechen von einer aktuell vor sich gehenden Übernahme des Landes durch ausländische muslimische Mächte (so z.B. der Chef Abteilung Dezentralisation im HCRA/D, M. Halidou). Oder: Liest man einige Beiträge im von Elh. Barham Cheikh (Bruder des neuen Chefs der Tijania) herausgegebenen Al Maoulid-Magazin der Tijania-Bruderschaft (Nr. 6 / April 2005, Seite 20) dass dort die Frage gestellt wird, ob der Niger ein Taliban-Staat im Wartestand sei (Immerhin seien zahllose Flüchtlinge aus dem Bin-Laden-Bergversteck in Afghanistan, den Felshöhlen von Tora-Bora, in der Zwischenzeit im Niger)? In einem andern Beitrag wird das Erstarken des militanten Islam „in allen gesellschaftlichen Bereichen“ beklagt.

Radios für Entwicklung
Gemeinschaftsradios als Entwicklungsmotoren des Landes
Nohou Soumana ist ein vielbeschäftigter Mann. Und will man ihm in die Augen schauen, muss man ganz genau hinsehen, um noch das Weisse zu sehen zwischen den halbgeschlossenen Lidern. Er wirkt fast immer müde und doch hin- und hergezerrt von seinen vielen Verantwortungen, denn im Moment ist derartig viel zu tun. Denn der 32-jährige Lehrer ist Multifunktionär. Er ist Chef des Vorzeigeradios des Landes, Radio Goudel, des neuen regionalen Netzwerks der Region um die Hauptstadt Niamey und schon fast schon sicher auch des in Gründung befindlichen selbstverwalteten nationalen Netzwerks der Gemeinschaftsradios. Er ist der Kontaktmann zu den internationalen Organisationen, wie z. B. dem DED.

Im 2004 gestarteten Prozess der Dezentralisierung und Kommunalisierung könnten diese Radios jetzt erst recht aufblühen. Wer sonst könnte besser als sie den Informationsfluss innerhalb der neuen Kommunen garantieren, erklären wie die Kommune funktionieren soll, welche Entscheidungen durch den Gemeinderat getroffen wurden, die Meinung der Bevölkerung an diesen und den Buergermeister auch zurücktragen? „Das Radio als unabhängiges Organ in der Kommune, wäre das Ideal“, so Soumana. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass einige der neu-gewählten Buergermeister die Radios als „ihr Radio“ ansehen und den Radios die Inhalte der Berichterstattung vorschreiben wollen. Aber von wo sollen die Radios die Finanzierung für die tägliche Arbeit bekommen? Die internationalen Organisationen haben bei der Geburt geholfen, sehen sich aber oft nicht als verantwortlich für ihre Überleben. Und die Kommunen haben selbst oft kein Geld.

Und die nigrischen Gemeinschaftsradios des Niger sind international kaum verknüpft. Auf dem 1. Weltinformationsgipfel in Genf, WSIS I / Dezember 2003, war keiner ihrer Vertreter, sondern der Präsident des CPRP, des Koordinationsorgans der Geldgeber der Radios. Und erst im Folgejahr 2004 wurde Radio Goudel, als erstes Gemeinschaftsradio des Landes, Mitglied im Weltverband der Gemeinschaftsradio, AMARC. Die Teilnahme am WSIS II, November dieses Jahres in Tunis, wäre daher ein weiterer Meilenstein für die Entwicklung und Repräsentanz dieser Radios. Nouhou Soumana würde gerne hinfliegen. Ein Unterstützer dafuer wird noch gesucht ....

Diese und andere Themen des Lebens und Arbeitens in muslimisch-geprägten Zusammenhängen möchte ich in den nächsten Monaten auf dem Portal „Entwicklungszusammenarbeit und internationaler Dialog mit dem Islam“ vertiefen.

Viele Grüße
Erhard Brunn

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